Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)

(Letzte Aktualisierung: 05.07.2021)

Die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ist das am breitesten angelegte Grundrecht des Grundgesetzes. Sie umfasst das Recht, seine Handlungen frei zu wählen, also zu tun und zu lassen, was man will. Die genaue Tragweite dieser Handlungsfreiheit wurde immer wieder in verfassungsgerichtlichen Urteilen neu definiert und auf bestimmte Situationen angepasst.

Allerdings kann der Staat in dieses breite Grundrecht auch weit gehend eingreifen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Praktisch jeder vernünftige Zweck ist ausreichend, wenn dadurch „nur“ die Handlungsfreiheit und kein anderes Grundrecht eingeschränkt wird.

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht die allgemeine Handlungsfreiheit auch immer wieder genutzt, neue Grundrechte zu „erfinden“ bzw. zu entwickeln.

Allgemeines

Wo steht die allgemeine Handlungsfreiheit im Grundgesetz?

Art. 2 Abs. 1 GG drückt sich so aus:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Unter der freien Entfaltung der Persönlichkeit wird gemeinhin mehr verstanden als der Begriff vermuten lässt: Jede Handlung oder Unterlassung kann damit begründet werden. Damit muss der Staat immer dann, wenn er seinen Bürgern etwas verbietet oder sie zu etwas verpflichtet, ein formelles Gesetz erlassen.

Warum schreibt man das so kompliziert?

Das hat in erster Linie sprachliche Gründe. Im Parlamentarischen Rat wurde durchaus angedacht, dieses Grundrecht als „Jeder kann tun oder lassen, was er möchte“ zu formulieren.

Schließlich hat man dann diese technischere und elegantere, aber weniger leicht verständliche Ausdrucksweise gewählt. Im Endeffekt ist es aber völlig unstreitig, dass eine solche weite Bedeutung von Art. 2 Abs. 1 GG gemeint war und anzuwenden ist.

Bedeutet das nun, dass jeder alles darf?

Das bedeutet, dass „zunächst einmal“ tatsächlich jeder Bürger machen darf, was er will. Er muss sich nicht dafür rechtfertigen, wie er seine Entscheidungen trifft.

Dies gilt aber nur solange wie es keine Gesetze gibt. Sobald der Staat Gesetze verabschiedet, greifen diese praktisch zwangsläufig in die allgemeine Handlungsfreiheit ein.

Schränkt der Zusatz „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“ die Handlungsfreiheit ein?

Im Endeffekt nicht. Die Abgrenzung zwischen den Rechten verschiedener Personen geschieht gerade durch die Gesetze.

Es ist also nicht so, dass die Handlungsfreiheit automatisch dort enden würde, wo Rechte anderer beginnen. Es ist vielmehr so, dass der Staat auch in die Handlungsfreiheit nur eingreifen kann, wenn dies zum Schutz der Rechte anderer Personen oder des Staates gerechtfertigt ist.

Braucht man dann die anderen Grundrechte überhaupt noch?

Ja, da die Schutzwirkung der allgemeinen Handlungsfreiheit ziemlich gering ist. Ein Eingriff lässt sich meist unproblematisch rechtfertigen. Sofern man sich also nur auf die Handlungsfreiheit berufen kann, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass ein staatlicher Eingriff gerechtfertigt ist.

Andere Grundrechte vermitteln daher einen spezielleren und tiefer gehenden Schutz.

Besteht die Handlungsfreiheit auch zusätzlich zu spezielleren Grundrechten?

Nein, insoweit tritt die Handlungsfreiheit in den Hintergrund.

Man spricht davon, dass Art. 2 Abs. 1 GG „subsidiär“ ist. Sie wirkt nur dort, wo es kein spezielleres Grundrecht gibt. Greift eine staatliche Handlung bspw. in die Meinungsfreiheit ein, so ist die Rechtmäßigkeit nur an der Meinungsfreiheit zu prüfen, nicht aber auch an der allgemeinen Handlungsfreiheit.

Die allgemeine Handlungsfreiheit würde aber ohnehin keinen besonderen Schutz gewähren, der über dieses andere, speziellere Grundrecht hinausgeht.

Was ist die Entwicklungsfunktion der Handlungsfreiheit?

Da die allgemeine Handlungsfreiheit jeden Bereich des menschlichen Lebens umfasst, wird dieses Grundrecht auch herangezogen, um die Grundrechte weiterzuentwickeln.

So gibt es bspw. im Grundgesetz kein festgeschriebenes allgemeines Persönlichkeitsrecht und kein Grundrecht auf vertrauliche Internetkommunikation. Weil die allgemeine Handlungsfreiheit aber diese Bereiche auch umfasst, hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG (teilweise in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) entsprechende spezielle Grundrechte abgeleitet.

Weil es sich dabei um spezielle Grundrechte (und nicht nur um einen Sonderfall der Handlungsfreiheit) handelt, ist ein Eingriff unter bestimmten Voraussetzungen möglich, also nicht unter den weiten Voraussetzungen der allgemeinen Handlungsfreiheit.

Was ist die „gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene Person“?

Diese Figur versucht, die umfassende allgemeine Handlungsfreiheit auf sozialkonforme Handlungsweisen zurechtzustutzen. Das traditionelle Menschenbild sieht den einzelnen Menschen als Individuum, das in seiner Freiheit vom Staat bedroht wird und daher die Grundrechte als Abwehrrechte gegen die Übergriffe des Staates benötigt.

Diesem liberalen Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht ein eigenes Bild entgegengesetzt, nämlich das der „gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person“. Demnach ist der Einzelne Teil der Gesellschaft und an seine Rolle in dieser gebunden. Er „muss sich die Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht“.

Damit müssen die Interessen des einzelnen Menschen hinter denen der Gesellschaft zurückstehen. Grenzen dessen sind das „allgemein Zumutbare“ sowie die „Eigenständigkeit der Person“. Der Staat hat also trotzdem nicht das Recht, die Grundrechte vollends unter Gemeinschaftsinteressen unterzuordnen. Eine genaue Grenzlinie lässt sich aber abstrakt kaum ziehen.

Urteile

Was sagt die „Reiten im Walde“-Entscheidung aus?

Die Entscheidung „Reiten im Walde“ (BVerfGE 80, 137) hört sich schon etwas merkwürdig an. Sie betrifft auch genau den Sachverhalt, den man darunter vermutet. Ein nordrhein-westfälisches Gesetz verbot es Reitern, außerhalb bestimmter Wege durch Wälder zu reiten. Hiergegen klagte ein Reiter.

Zunächst stellte das Bundesverfassungsgericht fest, was seit der Elfes-Entscheidung weitgehend anerkannt war: Jedes menschliche Handeln unterfällt der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, so also auch das Reiten im Wald.

Allerdings kann diese Freiheit durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden. Diesen Anforderungen genügt das streitgegenständliche Gesetz. Es verfolgt einen legitimen Zweck (den Schutz insbesondere von Fußgängern im Wald) und ist zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich. Unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen ist auch die Verhältnismäßigkeit des Verbots gewahrt.

Was sagt das Elfes-Urteil aus?

Im Elfes-Urteil (BVerfGE 6, 32) ging es um die Frage der Verlängerung eines Reisepasses. Die Detailfragen insoweit sind praktisch nicht relevant. Entscheidender ist vielmehr die Aussage des Urteils zur allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).

Zum einen wurde abschließend geklärt, dass dieses Grundrecht nicht nur den Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung schützt, sondern jedes Tun und Lassen eines Bürgers, das nicht gegen die „verfassungsmäßige Ordnung“ verstößt.

Zudem wurde dieser Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“, die die Handlungen der Bürger einschränkt definiert: Darunter sollen (nur) alle materiell und formell ordnungsgemäßen Gesetze fallen. Damit stellen Gesetze, die nicht nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen sind, eine unzulässige und damit die allgemeine Handlungsfreiheit der Bürger verletzenden Beschränkung dar.

Das BVerfG sagt es so:

Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

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