Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG)

(Letzte Aktualisierung: 07.12.2022)

Das Grundgesetz kennt eine Vorschrift, die es wohl nur in ganz wenigen Verfassungen der Welt gibt: Ein Recht auf Widerstand gegen einen diktatorischen Staat.

Art. 20 Abs. 4 GG erlaubt es jedem Deutschen, gegen Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vorzugehen und die Verfassung auch gewaltsam zu verteidigen. Damit nicht jeder Bürger nach seinem Gutdünken Gewalt anwendet, ist dies aber nur als letzte Möglichkeit vorgesehen, wenn andere Wege versperrt sind.

Ob die Vorschrift im Ernstfall Relevanz hätte, ist unsicher. Eine nach einem Staatsstreich herrschende Regierung würde mit Sicherheit den Widerstand aus der Bevölkerung nicht einfach hinnehmen, nur weil dies im Grundgesetz erlaubt ist.

Widerstandsrecht

Was ist das Widerstandsrecht im Grundgesetz?

Das sogenannte Widerstandsrecht findet sich in Artikel 20 Abs. 4 GG:

Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

„Diese Ordnung“ ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die in den vorherigen drei Absätzen (Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG) umschrieben ist:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

Damit kann also jeder Deutsche grundlegende Staatsprinzipien verteidigen.

Seit wann gibt es diese Vorschrift?

Erst seit 1968.

Das ursprüngliche Grundgesetz sah ein solches Widerstandsrecht nicht vor. Da die Bundesrepublik noch nicht souverän war, lag die Staatsgewalt nicht ausschließlich beim Volk, sondern (auch bzw. sogar in erster Linie) bei den Besatzungsmächten. Ein Widerstandsrecht der Bürger wäre damit unlogisch und systemwidrig gewesen.

Im Zuge der Notstandsgesetzgebung, die dem Staat zusätzliche Befugnisse in Ausnahmsfällen einräumte, sollte so ein Korrektiv eingeführt werden.

Wurde Art. 20 Abs. 4 schon einmal aktuell?

Nein.

Es gab bislang keinen Fall, in dem das Widerstandsrecht jemals ausgeübt werden konnte. Es dürfte auch noch keine Situation in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben haben, die auch nur in die Nähe eines in Art. 20 Abs. 4 GG beschriebenen Umsturzes gekommen wäre.

Stellt Art. 20 Abs. 4 ein Grundrecht dar?

Das Widerstandsrecht im Grundgesetz erlaubt es dem Einzelnen, die freiheitliche Demokratie (auch gewaltsam) zu verteidigen.
Das Widerstandsrecht im Grundgesetz erlaubt es dem Einzelnen, die freiheitliche Demokratie (auch gewaltsam) zu verteidigen.
Das kommt auf die Sichtweise an.

Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG normieren zunächst einige Grundsätze des politischen Systems der Bundesrepublik, nämlich den demokratischen und sozialen Bundesstaat (Abs. 1), die Volkssouveränität (Abs. 2) und die Gesetzesbindung (Abs. 3).

Absatz 4 sieht dann vor:

Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Dies klingt zunächst nach einem Grundrecht. Und doch erfüllt es dessen Definition nicht so ganz, vor allem, weil die Schutzrichtung eine andere ist.

Erinnern wir uns: Ein Grundrecht schützt den Bürger gegen den Staat. Es stellt ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates in die bürgerliche Freiheit dar. Dagegen schützt Art. 20 Abs. 4 nicht vor Freiheitsbeschränkungen, sondern vor einem Abrutschen in die Diktatur. Dass damit früher oder später mit Sicherheit auch Grundrechte verletzt würden, ist allenfalls ein Nebeneffekt. Wer das Widerstandsrecht ausübt, schützt nicht sich selbst vor staatlichem Zugriff, sondern den Staat vor einem Usurpator.

Von wem muss der Angriff ausgehen, damit man sich auf Art. 20 Abs. 4 GG berufen kann?

Angesichts der weiten Formulierung „gegen jeden“ spielt es grundsätzlich keine Rolle, wer die freiheit-demokratische Grundordnung beseitigen will.

In Frage kommen daher:

  • Politiker, die ihre Macht verfassungswidrig ausbauen wollen
  • putschende Militärs
  • ausländische Staaten
  • Einzelpersonen
  • private oder staatliche Organisationen

Unterschiede wird es aber regelmäßig bei der Beurteilung der Frage geben, ob andere Abhilfe möglich ist. Angriffe durch kleine Gruppen oder gar einzelne Personen dürften regelmäßig anders zu bekämpfen sein als durch das Widerstandsrecht.

Wie weit muss der Angriff fortgeschritten sein, um das Widerstandsrecht auszulösen?

In Art. 20 Abs. 4 GG wird das Widerstandsrecht gegen jeden eingeräumt, der die Beseitigung der Verfassungsordnung „unternimmt“.

Dieser Begriff des Unternehmens wird so verstanden wie im Strafrecht (§ 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB). Demnach ist die bloße Vorbereitung des Umsturzes noch nicht ausreichend, der Versuch allerdings schon. So gesehen muss der Staatsstreich also bereits begonnen haben.

Wann endet das Widerstandsrecht?

Grundsätzlich könnte man annehmen, dass das Widerstandsrecht in dem Moment erlischt, in dem Art. 20 Abs. 4 GG aufgehoben oder durch die neuen Machthaber für unabwendbar erklärt wird. Das würde aber eine sehr erhebliche Einschränkung des Widerstandsrechts in zeitlicher Hinsicht bedeuten.

Da die Vorschrift gerade dazu dienen soll, die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie zu legalisieren und legitimieren, wäre eine solche Auslegung kontraproduktiv. Im Hinblick auf den Nationalsozialismus hätte dies bedeutet, dass es ungefähr mit Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes keinen legalen Widerstand mehr gegeben hätte. Dies wäre ein befremdliches Ergebnis.

Die herrschende Meinung nimmt daher an, dass das Widerstandsrecht nur erlischt, wenn entweder Art. 20 Abs. 4 GG oder das gesamte Grundgesetz durch einen Akt legitimer (also wohl zwingend demokratischer) Verfassungsgebung aufgehoben werden.

Gegen wen darf der Widerstand gerichtet sein?

Wohl gegen jeden, der sich am Umsturz beteiligt.

Nicht relevant ist, ob es sich dabei um staatliche Institutionen oder um Privatpersonen handelt.

Ob auch gegen Unbeteiligte gehandelt werden darf, ist umstritten. Der Begriff des „Widerstands“ setzt eigentlich voraus, dass es irgendeine Form von Aggression gibt. Wer daran nicht beteiligt ist, kann also eigentlich kein Ziel für Widerstand sein. Allerdings wird man auch zulassen müssen, dass man bspw. Waffen von Unbeteiligten wegnimmt und zum Widerstand verwendet.

Wer darf Widerstand leisten?

Jeder Deutsche.

Ausländer sind hiervon also nicht umfasst. Auch EU-Ausländer dürften hier ausnahmsweise nicht den Inländern gleichgestellt werden. Denn es handelt sich hier um ein Recht, das unmittelbar im Staatsvolk wurzelt und gerade an der deutschen Staatsbürgerschaft hängt.

Auch Personen im Staatsdienst können dieses Recht in Anspruch nehmen. Gerade Staatsbedienstete (z.B. Polizei, Bundeswehr) dürften im Falle eines Umsturzes besonders dazu aufgerufen sein, Widerstand zu leisten.

Wie darf der Widerstand aussehen?

Das ist völlig unklar.

Das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG erlaubt es jedem Bürger, sich gegen diktatorische Bestrebungen zu stellen.
Das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG erlaubt es jedem Bürger, sich gegen diktatorische Bestrebungen zu stellen.
Das Widerstandsrecht ergibt sich ausschließlich aus der Verfassung, einfache Gesetze dürften hier also keine Rolle spielen. Es gibt auch kein Gesetz, das spezifisch dieses Widerstandsrecht regeln würde.

Allerdings soll das Widerstandsrecht die Verfassungsordnung schützen. Insoweit wäre es kaum nachvollziehbar, jede Handlung zu legalisieren und bspw. exzessive Gewalt zu legalisieren. Der Einsatz von Kriegswaffen und militärische Kämpfe dürften ohne eben solche Handlungen der Gegenseite nicht zulässig sein.

Andererseits werden aus dem Strafrecht bekannte Grenzen wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder die Pflicht zur Wahl des mildesten Mittels wohl nicht gelten. Eine Bedrohung der gesamten Gesellschaftsordnung, wie sie von Art. 20 Abs. 4 GG vorausgesetzt wird, dürfte sogar sehr massive Gegenwehr verhältnismäßig erscheinen lassen und häufig keine vorsichtigen, milden Mittel zulassen.

Wann ist „andere Abhilfe nicht möglich“?

Andere Abhilfe ist bei staatlichen Verfassungsverletzungen in erster Linie die Beschreitung des Rechtswegs, um diese Handlungen für illegal erklären zu lassen oder aufzuheben. Auch die Einschaltung von Ordnungskräften oder Verteidigungshandlungen einzelner Bundesländer dürften Vorrang vor selbständiger Gewaltanwendung besitzen.

Bei einem privaten Umsturz ist staatliche Abhilfe vorrangig, bevor private Widerstandshandlungen zulässig sind.

Der Aspekt der „Möglichkeit“ ist ebenfalls nicht völlig klar: Theoretisch möglich sind vielerlei Arten der Abhilfe. Um das Widerstandsrecht nicht ganz leerlaufen zu lassen, müssen diese aber wohl eine effektive und zeitnahe Lösung versprechen. Auf das Abwarten unsicherer und noch nicht absehbarer Optionen, das dann möglicherweise zu einer Verfestigung des Umsturzes führen wurde, muss man sich wohl nicht verlassen. Wenn dagegen eine staatliche Reaktion erfolgt, die eine Wiederherstellung der freiheitlichen Demokratie erwarten lässt, besteht kein Raum mehr für eigene Widerstandshandlungen.

Ist eine Strafverfolgung von Widerstandshandlungen möglich?

Art. 20 Abs. 4 GG führt zu einer Rechtfertigung der darunter vorgenommenen Handlungen. Diese sind rechtmäßig, sofern die Voraussetzungen des Widerstandsrechts vorliegen, und damit nicht strafbar.

Liegen die Voraussetzungen nicht vor, können eventuelle Straftaten aber nach den allgemeinen Strafgesetzen zu ahnden sein. Möglicherweise kommt eine Straflosigkeit oder Strafmilderung wegen Irrtums in Betracht.

Aber auch eine rechtmäßige Widerstandshandlung kann natürlich durch die neue Regierung, die die FDGO beseitigt hat, strafrechtlich verfolgt werden. Dies widerspricht dann zwar Art. 20 Abs. 4 GG, hierfür wird sich diese Staatsordnung dann aber nicht interessieren.

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