Mich hat eine sehr interessante Anfrage erreicht, die ich hier beantworten möchte. Ich muss dazu sagen, dass es sich um keine Thematik handelt, zu der ich die juristische Einschätzung ohne Weiteres aus dem Ärmel schütten konnte. Die Problematik ist recht tiefgehend, war anscheinend noch nicht Gegenstand einer gerichtlichen Klärung und könnte darum im Streitfalle auch anders gesehen werden.
Widerspruchsverfahren weitgehend abgeschafft
Zunächst einmal zum allgemeinen Hintergrund: Früher hab es fast ausnahmslos die Möglichkeit des Widerspruchsverfahrens, wenn einem eine behördliche Entscheidung nicht gefiel. Wenn beispielsweise die Gemeinde eine Straßenbauabgabe verlangt hat, hat sie einen schriftlichen Bescheid darüber erlassen. Wenn man damit nicht einverstanden war, konnte man Widerspruch einlegen, woraufhin die zuständige Widerspruchsbehörde (je nachdem entweder wieder die Gemeinde selbst oder auch bspw. der Landkreis) die Sache erneut geprüft und neu entschieden hat.
Das Widerspruchsverfahren wurde als eine Art Vorinstanz des Gerichtsverfahrens gesehen, weswegen es auch nicht im Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes, sondern in der (Bundes-) Verwaltungsgerichtsordnung (§§ 68 bis 75) geregelt ist.
Dieses Widerspruchsverfahren wurde mittlerweile in den meisten Bundesländern und in den meisten Rechtsgebieten ganz abgeschafft oder für freiwillig erklärt. Dies erlaubt § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Wir nehmen für unseren Fall an, dass das Widerspruchsverfahren hier nicht zur Verfügung steht. Der Bürger muss also, wenn er einen behördlichen Bescheid erhält, unmittelbar Klage zu Verwaltungsgericht erheben. Wenn er einen Widerspruch gemäß § 68 VwGO einlegt, ist dieser unzulässig, weil ein Widerspruchsverfahren eben nicht zur Verfügung steht.
(Um-) Deutung des unzulässigen Widerspruchs
Nun ist ein Schreiben eines Bürgers, das dieser als „Widerspruch“ bezeichnet, aber nicht zwingend auch wirklich ein Widerspruch im Sinne der Verwaltungsgerichtsordnung. Es ist allgemein anerkannt, dass eine jede rechtliche Äußerung oder Erklärung umgedeutet werden kann, wenn eine unpassende Bezeichnung gewählt wurde, mit der das Ziel dieser Äußerung nicht erreicht werden kann.
Wenn der Widerspruch aber nun kein Widerspruch ist, was ist er dann? Hier kommt das Petitionsrecht aus Art. 17 GG ins Spiel:
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.
Das Petitionsrecht umfasst nicht nur klassische Petitionen an den Landtag oder Bundestag, sondern auch – siehe Fragen und Antworten zu diesem Grundrecht – jegliche Eingaben an Behörden.
Wenn man ein Schreiben an eine Behörde richtet, dann kann das je nach Situation ein formeller Antrag oder ein Rechtsbehelf sein, es handelt aber zumindest um eine Petition. Diese Petition hat im auch im mittlerweile gesetzlich formalisierten Verwaltungsverfahren ihren Platz, wird also nicht durch die Möglichkeit der Klage verdrängt.
Recht auf Kenntnisnahme über Petitionsrecht
Wenn es „nur“ eine Petition ist, hat der Bürger aber lediglich ein Recht auf Kenntnisnahme der Petition. Weitergehende Rechte dahingehend, dass die Petition in einer bestimmten Weise behandelt wird oder dem Anliegen entsprochen wird, gibt es nicht.
Im Ausgangsfall bedeutet das also, dass die Behörde den Widerspruch zur Kenntnis nehmen muss. Sie muss aber den „angefochtenen“ Bescheid nicht – wie in einem ordentlichen Widerspruchsverfahren, vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 und § 72 VwGO – neu überdenken und erst recht nicht aufheben. Denn einen Anspruch auf eine bestimmte Sachbehandlung gibt es eben nicht.
Ist dann dieser Widerspruch als Petition eine völlig bedeutungslose Unmutskundgebung, die von der Behörde einfach nur abgeheftet werden kann? Nein, so einfach ist es auch wieder nicht.
Behörde kann Verwaltungsakt aufheben
Die Behörde hat grundsätzlich, also völlig unabhängig von einem Widerspruch des Bürgers, die Möglichkeit, einen Verwaltungsakt nachträglich aufzuheben (§§ 48 und 49 der meisten Landes-VwVfG). Wenn nun aber der Bürger im Rahmen der Petition etwas vorbringt, das Anlass sein könnte, eine solche Aufhebung zu erwägen, dann ist die Behörde auch gezwungen, dem nachzugehen.
Das bedeutet also: Art. 17 GG zwingt die Behörde, das Schreiben überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. §§ 48, 49 VwVfG zwingen die Behörde, die mögliche rechtliche Relevanz dieser Kenntnis zu prüfen.
Bedeutet das nun, dass man jede behördliche Entscheidung qua Petition einer erneuten Prüfung zuführen kann und es damit völlig unerheblich ist, ob es ein formelles Widerspruchsverfahren gibt? Nein, so einfach ist es auch wieder nicht.
Denn es handelt sich bei den §§ 48, 49 VwVfG um Kann-Vorschriften. Die Behörde kann einen Verwaltungsakt nach ihrem Ermessen aufheben, muss es aber in aller Regel nicht. Wenn die Behörde also nach Kenntnisnahme des Widerspruchs keinen Anlass sieht, ist das grundsätzlich rechtmäßig.
Weitere Aufhebungsmöglichkeiten
Daneben gibt es noch seltenere Möglichkeiten, Verwaltungshandeln zu korrigieren.
Wenn der Verwaltungsakt an einem „besonders schwerwiegenden Fehler leidet“, ist er nichtig, also schlicht nicht existent (§ 44 VwVfG). Erfährt die Behörde von einem solchen Fehler über eine Petition, wird sie regelmäßig gezwungen sein, diese Nichtigkeit festzustellen, den Bescheid also zur Klarstellung aus der Welt zu schaffen.
Finden sich neue Beweismittel oder ändert sich die Rechtslage, kann auf Antrag des Betroffenen das Verfahren neu aufgegriffen werden (§ 51 VwVfG). In diesem Falle wird man einen unzulässigen Widerspruch (ggf. nach Rückfrage beim Bürger) in einen solchen Antrag umdeuten müssen.
Der Schwerpunkt der behördlichen Reaktion wird also regelmäßig in den §§ 48 und 49 VwVfG liegen.
Effektivität der Petition ist begrenzt
Insoweit muss man wohl auch sagen, dass ein außerordentliches Mittel wie dieser informelle Widerspruch nicht dazu führen darf, dass die formellen Wege der Anfechtung unterlaufen werden. Dies äußert sich darin, dass zum einen eben die Aufhebung im Ermessen der Behörde steht, zum anderen aber schon die Beschäftigung mit der Eingabe über die Kenntnisnahme nicht hinausgehen muss.
Eine Handlungspflicht der Behörde gibt es also nur, wenn sich anhand des Inhalts der Eingabe aufdrängt, dass die Behörde aus rechtsstaatlichen Gründen gar nicht anders kann, als den Bescheid aufzuheben. Die Argumentation muss also so überwältigend sein, dass aus der Kann-Vorschrift gleichsam ein „Muss“ wird, weil der Bescheid einfach nicht in der Welt bleiben kann. In solchen Fällen spricht man von einer „Ermessensreduzierung auf null“ – es gibt zwar immer noch ein Ermessen, aber ein sachgemäßer Gebrauch des Ermessens erlaubt nur eine Entscheidung.
Eine gerichtliche Anfechtung wird sich dementsprechend auch nur noch in diesem Bereich stattfinden können. Man müsste also vor dem Verwaltungsgericht nachweisen, dass eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt, die die Behörde zur Aufhebung des Verwaltungsakts verpflichtet. Ein Nachweis, dass der Verwaltungsakt unrichtig ist oder so nicht hätte ergehen dürfen, reicht nicht mehr aus.
Man hat also in diesem Fall das Recht auf eine volle Nachprüfung (wie bei einem zulässigen Widerspruchsverfahren oder bei der Klage gegen den Bescheid als solchen) verloren und vergrößert damit den Ermessensspielraum der Behörde erheblich.
Dieser Spielraum geht aber eben nicht so weit, dass die Behörde die Unzulässigkeit eines Widerspruchs zum Anlass nimmt, das Schreiben völlig zu ignorieren, weil sie sich dafür nicht mehr zuständig fühlt. Dies wäre eine Verletzung des Petitionsgrundrechts.