Prof. Papier: Grundgesetz grundrechtsfreundlicher als Weimarer Verfassung?

Auf Facebook kursiert gerade ein Meme mit einem juristischen Zitat, das großen Anklang findet:

Nach dem Grundgesetz können die Grundrechte auch in einer Notstandssituation nicht außer Kraft gesetzt werden. Die Rechtslage unter dem Grundgesetz unterscheidet sich ganz grundlegend von der Weimarer Verfassung. Dort konnte der Reichspräsident gemäß Artikel 48 zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit die Grundrechte vorübergehend außer Kraft setzen. In unserer Verfassung, dem Grundgesetz, ist das bewusst nicht so geregelt worden. Es gilt immer der Grundsatz: In dubio pro libertate.

Hans-Jürgen Papier
ehem. Präsident des Bundesverfassungsgerichts
im Interview mit der Berliner Zeitung, 13.09.2021

Wenn ein früherer BVerfG-Präsident das gesagt hat, dann kann es wohl so falsch nicht sein. Trotzdem muss man diese Aussage schon auch etwas hinterfragen.

Richtig ist, dass Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung lautete:

Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.

Die dort erwähnten Grundrechte waren die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und das Eigentumsgrundrecht.

Eine entsprechende Vorschrift gibt es, und darauf spielt Prof. Papier offensichtlich an, im Grundgesetz nicht. Weder der Bundespräsident noch die Bundesregierung können also auf dem Verordnungswege, rein auf die Verfassung und einen angeblichen Notstand gestützt, Grundrechte einschränken.

Auch das Grundgesetz erlaubt Grundrechtseinschränkungen in bestimmten Fällen.
Auch das Grundgesetz erlaubt Grundrechtseinschränkungen in bestimmten Fällen.
Aber selbstverständlich sind die Grundrechte des Grundgesetzes nicht absolut. Grundrechte können durch Gesetze beschränkt werden und das geschieht auch fortlaufend. In der aktuellen Corona-Krise haben wir alle gemerkt, wie rigoros und schnell Grundrechte eingeschränkt werden können. Teils geschieht dies unmittelbar durch ein Gesetz (in erster Linie das Infektionsschutzgesetz), teils durch Verordnung von Landes- oder Bundesregierung auf Basis des Infektionsschutzgesetzes.

Auch zahlreiche andere Gesetze schränken, ganz ohne eine Pandemie, die Grundrechte ein oder eröffnen jedenfalls diese Möglichkeit:

  • Steuergesetze greifen in das Eigentum ein
  • Strafvorschriften gegen Beleidigungen beschränken die Meinungsfreiheit
  • Scheidungs- und Sorgerechtsbestimmungen richten sich oft gegen Ehe und Familie
  • Online-Durchsuchungen greifen in das Computergrundrecht ein
  • Polizeigesetze können die persönliche Freiheit und die körperliche Unversehrtheit betreffen
  • Anforderungen an Ausbildung und Examen begrenzen die Berufsfreiheit
  • so ziemlich jedes Gesetz kollidiert mit der allgemeinen Handlungsfreiheit

Damit können die Grundrechte zwar nicht komplett außer Kraft gesetzt werden. Sie sind immer noch da, sie sind rechtswirksam und sie sind anwendbares Recht. Die Zulässigkeit der Einschränkung kann durch die Verfassungsbeschwerde überprüft werden. Das ist der Unterschied zur Außerkraftsetzung nach der Weimarer Verfassung.

Aber auch die Grundrechte aus dem Grundgesetz können innerhalb ihres Anwendungsbereichs eingeschränkt werden. Je weiter sie eingeschränkt werden, desto mehr nähert sich das einer Außerkraftsetzung eines Grundrechts. Und darum ist der Unterschied zu Weimar so riesig auch wieder nicht. Er wird auch immer kleiner, weil immer mehr von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, Grundrechte einzuschränken.

Herr Prof. Papier sieht das Grundgesetz meines Erachtens deutlich zu positiv. Und auch das Bundesverfassungsgericht hat in der Zeit, in der er ihm vorstand, keineswegs immer nach dem von ihm zitierten Motto „in dubio pro libertate“ (im Zweifel für die Freiheit) gehandelt, sondern fast alle staatlichen Grundrechtseinschränkungen passieren lassen.

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