„In dubio pro reo“ als Grundrecht?

Im Strafrecht gibt es den sogenannten Zweifelssatz: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Dieser auch (nicht ganz richtig) als Unschuldsvermutung bezeichnete Grundsatz soll den Beschuldigten schützen und ungerechte Verurteilungen verhindern. Im Fachrecht und im Strafprozess ist seine Existenz unbestritten anerkannt.

Aber ergibt sich dieser Zweifelssatz auch aus der Verfassung, insbesondere aus den Grundrechten?

Im Grundgesetz steht dieser Satz nirgends ausdrücklich – sonst würde sich dieser Artikel naheliegenderweise auch erübrigen.

Abgrenzung zur Unschuldsvermutung

Sehr deutlich hat sich das Bundesverfassungsgericht im Verfahren 2 BvR 2282/16, Rdnr. 11, zur strafrechtlichen Unschuldsvermutung im engeren Sinne geäußert:

Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. (…) Die Unschuldsvermutung schließt nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten (…) Allerdings muss dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage.

Zu beachten ist aber, dass hier ein anderer Aspekt der Unschuldsvermutung (die eben nicht vollständig mit dem „in dubio“-Satz identisch ist). Es ging hier nicht darum, dass jemand trotz Zweifeln an seiner Schuld verurteilt wurde. Vielmehr wurde er nicht verurteilt, sondern das Verfahren eingestellt, die Staatsanwaltschaft hat ihn aber trotzdem als schuldig bezeichnet.

Die Unschuldsvermutung bedeutet, dass jemand als unschuldig gilt, sofern und solange er nicht schuldig gesprochen wurde. Der Zweifelssatz bedeutet, dass jemand nicht schuldig gesprochen werden darf, wenn seine Schuld nicht zweifelsfrei erwiesen ist.

Erste Ansicht: „Keine Strafe ohne Gesetz“

Häufig wird die Regel „in dubio pro reo“ aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleitet.

Art. 103 Abs. 2 GG normiert den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“:

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Dieser Grundsatz hat verschiedene Dimensionen und wird oft als Rückwirkungs- und Analogieverbot charakterisiert. Man kann sich nur strafbar machen, wenn ein geschriebenes Gesetz ausdrücklich die begangene Handlung unter Strafe stellt und dieses Gesetz schon existiert hat, bevor die Handlung begangen wurde.

Dies bedeutet also, dass das Gericht für eine strafrechtliche Verurteilung einen Tatbestand für gegeben halten muss, der den Anforderungen des Gesetzes entspricht. Das Grundgesetz sagt aber nichts dazu, welcher Beweismaßstab an die Feststellung dieses Tatbestands angelegt werden muss.

Art. 103 Abs. 2 GG könnte auch erfüllt sein, wenn sich das Gericht in Zweifelsfällen nicht zugunsten des Angeklagten, sondern einfach für die wahrscheinlichere Möglichkeit entscheiden müsste oder wenn gar die Beweislast beim Angeklagten läge.

Zweite Ansicht: Faires Verfahren

In dem nicht online veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 407/74, aus dem Jahr 1974 heißt im ersten Leitsatz:

Der Satz „in dubio pro reo“ weist den Richter lediglich an, wie er zu verfahren hat – nämlich im Sinne der den Angeklagten am wenigsten beschwerenden Rechtsfolge -, wenn er sich über eine entscheidungserhebliche Tatsache keine Gewißheit verschaffen kann; er sagt nichts über die Maßstäbe, nach denen der Richter eine Tatsache für gewiß halten darf. Der Satz „in dubio pro reo“ ist daher nicht schon verletzt, wenn der Richter hätte zweifeln müssen, sondern nur, wenn er verurteilte, obwohl er zweifelte.

Aus der Systematik der Entscheidung ergibt sich, dass das BVerfG den Zweifelssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitet hat. Dies wiederum dürfte ein Hinweis darauf sein, dass nicht der Gleichbehandlungsgrundsatz als solcher relevant war, sondern noch das Rechtsstaatsprinzip hinzugezogen wurde. Die Unschuldsvermutung wäre damit eher ein Aspekt des fairen Verfahrens.

Diese Herleitung ist eher wacklig.

Denn die Fairness des Verfahren bemisst sich danach, dass die Beteiligten sich am Prozess beteiligen können, rechtliches Gehör erhalten und ihre Sicht der Dinge darlegen und ggf. beweisen können. Die Frage, wer bei unklarer Sachlage „gewinnt“, ist damit aber nicht beantwortet. Im Zivilrecht liegt die Beweislast schon denklogisch bei der einen oder bei der anderen Seite, ohne dass dies automatisch unfair wäre.

Im Strafverfahren kann man vielleicht eine gewisse strategische Übermacht der Staatsanwaltschaft konstatieren, da diese ja die Ermittlungen vorantreibt und von Anfang an Beweismittel besorgen kann, unter Umständen bevor der Beschuldigte überhaupt von den Vorwürfen erfährt. Indes wird dies bspw. durch Akteneinsicht und Antragsrechte ausgeglichen und ist es keineswegs zwingend, daraus besondere Regeln für die Überzeugungsbildung des Gerichts abzuleiten.

In diese Richtung geht auch die Entscheidung im Verfahren 2 BvR 965/07, Rdnr. 3:

Sofern er [der Verfassungsbeschwerdeführer] die fehlende Sachaufklärung anlässlich des Strafverfahrens sowie die unzureichende Beweisaufnahme und fehlerhafte Beweiswürdigung unter Verkennung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ durch das Gericht rügt, ist sein Vorbringen an den Grundsätzen des fairen Verfahrens zu messen.

Sehr richtig ist freilich der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, dass eine rechtsstaatliche Schuldfeststellung nur innerhalb eines fairen Strafverfahrens erfolgen kann.

Dies ist aber auch ein Hinweis darauf, dass es in diesem Verfahren wohl eher um einen anderen Aspekt ging: Das Gericht war hier aus Sicht des Verfassungsbeschwerdeführers vorschnell von seiner Schuld überzeugt, weswegen es weitere Sachaufklärung – die durch das faire Verfahren geboten war und möglicherweise Zweifel an seiner Schuld hervorgerufen hätte – unterlassen hat.

Dritte Ansicht: Artikel 6 Absatz 2 EMRK

Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention lautet:

Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

Auch dies betrifft nur die Unschuldsvermutung, nicht die prozessuale Feststellung der Schuld. Es heißt auch ausdrücklich, dass der „gesetzliche Beweis“ erbracht werden muss, was näherer Ausformung durch das Prozessrecht der Mitgliedsstaaten erfordert.

Davon abgesehen hat die EMRK keinen Verfassungsrang und auch keinen erhöhten Gesetzesrang nach Art. 25 GG, sondern entspricht nur einem einfachen Bundesgesetz.

Die Anforderungen der EMRK sind also allenfalls Aspekte des fairen Verfahrens, diese dient anerkanntermaßen auch der Auslegung von Verfassungsbestimmungen, ist selbst aber nicht Teil der Verfassungsordnung.

Vierte Ansicht: Verfassungsrang unklar

In der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht 2 BvR 910/96 (Rdnr. 40) aus dem Jahr 2000 beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht obiter dictu („im Vorbeigehen“) mit der verfassungsrechtlichen Begründung des Zweifelssatzes. Dieses Vorbeigehen ist tatsächlich ein sehr kurzes, denn es heißt lediglich in einem Einschub:

nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ – für den nicht entschieden ist, ob ihm Verfassungsrang zukommt (…) –

Das Bundesverfassungsgericht lässt es also, wie so oft, offen, wie diese Frage nun zu entscheiden ist.

Fünfte Ansicht: Menschenwürde

Zuletzt hat sich das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 05.07.2019, 2 BvR 167/18) dagegen relativ deutlich zum Verfassungsgebot der Unschuldsvermutung geäußert (Rndr. 35):

Bleiben nach sorgfältiger Sachaufklärung noch Zweifel, müssen sie sich zugunsten des Angeklagten auswirken („in dubio pro reo“). Eine Verurteilung kann also nur erfolgen, wenn sich das Gericht die sichere Überzeugung von Tat und Schuld verschafft hat, eine Gewissheit, die jeden vernünftigen Zweifel ausschließt (vgl. BVerfGE 9, 167 <170>; 63, 380 <392>). Die Unschuldsvermutung ist danach die selbstverständliche Folge eines nach Inhalt und Grenzen durch das Gebot der Achtung der Menschenwürde bestimmten, auf dem Schuldgrundsatz aufbauenden materiellen Strafrechts (vgl. BVerfGE 74, 358 <371>). Sie erzwingt ein prozessordnungsgemäßes Verfahren zum Beweis des Gegenteils, bevor wegen eines Tatvorwurfs Entscheidungen getroffen werden, die die Feststellung von Schuld erfordern (vgl. BVerfGE 74, 358 <371>; 82, 106 <114 f.>; 133, 168 <202 Rn. 61>).

Hier hängt das BVerfG die Unschuldsvermutung also „ganz oben“ auf. Diese soll sich aus der Menschenwürde ableiten und deren selbstverständliche Folge sein. Diese Ansicht verwundert etwas, zumal sie mit Entscheidungen belegt wird, die sich zu Frage „in dubio pro reo“ gar nicht äußern und vor dem obigen Urteil aus dem Jahr 2000 ergangen sind, dort aber nicht erwähnt werden. Dass das Gericht selbst die Frage zwischenzeitlich der Verfahrensfairness zugeordnet hat, wird auch nicht angesprochen.

Zusammenfassung

Insgesamt ist die verfassungsrechtliche Herleitung des Zweifelssatzes also immer noch unklar. Dass er einfachrechtlich besteht und ein Verstoß dagegen die strafrechtliche Revision begründen kann, ist dagegen unbestritten.

Bedeutung für die Verfassungsbeschwerde

Um eine Verfassungsbeschwerde erfolgversprechend begründen zu können, muss man zunächst einmal die grundrechtliche Absicherung unterstellen. Ob das Bundesverfassungsgericht das Verfahren dann zum Anlass nehmen wird, die Frage endgültig zu klären, bleibt freilich abzuwarten.

Angesichts der unklaren Verortung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ im Grundgesetz sollte man alle möglicherweise in Betracht kommenden Grundrechte ansprechen und deren Verletzung auch in ihrem allgemeinen Gehalt begründen.

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