Im Strafrecht gibt es den sogenannten Zweifelssatz: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Dieser auch (nicht ganz richtig) als Unschuldsvermutung bezeichnete Grundsatz soll den Beschuldigten schützen und ungerechte Verurteilungen verhindern. Im Fachrecht und im Strafprozess ist seine Existenz unbestritten anerkannt.
Aber ergibt sich dieser Zweifelssatz auch aus der Verfassung, insbesondere aus den Grundrechten?
Im Grundgesetz steht dieser Satz nirgends ausdrücklich – sonst würde sich dieser Artikel naheliegenderweise auch erübrigen.
Abgrenzung zur Unschuldsvermutung
Sehr deutlich hat sich das Bundesverfassungsgericht im Verfahren 2 BvR 2282/16, Rdnr. 11, zur strafrechtlichen Unschuldsvermutung im engeren Sinne geäußert:
Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. (…) Die Unschuldsvermutung schließt nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten (…) Allerdings muss dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage.
Zu beachten ist aber, dass hier ein anderer Aspekt der Unschuldsvermutung (die eben nicht vollständig mit dem „in dubio“-Satz identisch ist). Es ging hier nicht darum, dass jemand trotz Zweifeln an seiner Schuld verurteilt wurde. Vielmehr wurde er nicht verurteilt, sondern das Verfahren eingestellt, die Staatsanwaltschaft hat ihn aber trotzdem als schuldig bezeichnet.
Zum Rechtsstaatsprinzip gehört die Rechtssicherheit. Der Bürger muss wissen, welche Pflichten und Verbote der Staat für ihn erlassen hat. Dafür ist es notwendig, dass er weiß, welche Gesetze gelten. Mit der Frage der Geltung überhaupt ist untrennbar verbunden, dass man weiß, wo eine Rechtsnorm gilt. Dies bezeichnet man als den räumlichen Geltungsbereich einer Vorschrift.
Zu der Frage, ob, wann und wie der Geltungsbereich einer Rechtsnorm angegeben werden muss, gibt es relativ wenig Rechtsprechung. In der Praxis gibt es eher selten Streitigkeiten zu dieser Frage, da es auch nur selten Zweifel darüber gibt, was wo gilt. Hinzu kommt aber, dass es mittlerweile zahlreiche Seiten im Internet gibt, die die spärlichen Urteile dazu aufgenommen haben und oft fälschlich wiedergeben.
Dieser Artikel soll den aktuellen Stand der Rechtsprechung und die juristische Behandlung dieser Frage zusammenfassen.
Bundesverwaltungsgericht, 28.11.1963, I C 74.61
Den Anfang macht eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1963 (veröffentlicht unter BVerwGE 17, 192). In dieser ging es um die Frage der Geltung einer Landschaftsschutzverordnung, die nach Ansicht der Baubehörde dem Eigentümer eines Grundstücks den Bau eines Hauses verbot. Dieser wandte dagegen ein, dass sich aus der Verordnung nicht eindeutig ergebe, wo das Landschaftsschutzgebiet überhaupt verlaufe und ob sein Grundstück davon umfasst sei.
Im Gegensatz zum räumlichen Geltungsbereich der weit überwiegenden Mehrzahl anderer Rechtsvorschriften deckt der Geltungsbereich der Landschaftsschutzverordnung sich nicht mit dem Zuständigkeitsbereich der normsetzenden Behörde.
Das ist schon einmal eine ganz bedeutende Besonderheit. Normalerweise erlässt die normsetzende Behörde Rechtsnormen für ihren gesamten Zuständigkeitsbereich. Der Bundestag für die gesamte Bundesrepublik, die Landesregierung das gesamte Bundesland, der Gemeinderat für die gesamte Gemeinde.
Bei einer Landschaftsschutzverordnung der Kreisbehörde ist das aber logischerweise nicht der Fall. Natürlich soll nicht der gesamte Landkreis inklusive Städten, Autobahnen und Industriegebieten unter Schutz gestellt werden. Das Landschaftsschutzgebiet muss also genau abgegrenzt werden.
Vielmehr ist es für Landschaftsschutzverordnungen kennzeichnend, daß sie nur für bestimmte Gebietsteile mit einer besonders schutzbedürftigen Landschaft gelten, ihr Geltungsbereich also nach der Ausdehnung des Schutzobjektes bestimmt wird. Für den Inhalt der Landschaftsschutzverordnung ist deshalb nicht nur die Regelung wesentlich, welche Veränderungen sie verbietet; ebenso wichtig ist auch ihre Regelung, wo diese Veränderungen verboten sind. Ohne die Bestimmung der Fläche, auf der dieses Verbot gilt, hat somit die Landschaftsschutzverordnung keinen vollständigen Inhalt
Bei einer solchen Verordnung ist der genaue räumliche Geltungsbereich also integraler Bestandteil ihres Inhalts. Eine Landschaftsschutzverordnung, die die Abmessungen des Landschaftsschutzgebiets nicht angibt, ist praktisch gegenstandslos. Das ist natürlich in gewisser Weise logisch.
Übrigens wird diese Entscheidung häufig mit den Sätzen „Jedermann muss, um sein eigenes Verhalten darauf einrichten zu können, in der Lage sein, den räumlichen Geltungsbereich eines Gesetzes ohne weiteres feststellen zu können. Ein Gesetz, das hierüber Zweifel aufkommen lässt, ist unbestimmt und deshalb wegen Verstoßes gegen das Gebot der Rechtssicherheit ungültig.“ zusammengefasst. Den ersten Satz findet man so schon in der gesamten Entscheidung nicht. Der zweite Satz ist mit einer sinnentstellenden Änderung manipuliert worden: Das Gericht schreibt nicht „Ein Gesetz, das“, sondern „Eine Landschaftsschutzverordnung, die“ – das ist eben der große Unterschied.
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob der Landkreis es nicht wusste, dass er das Gebiet begrenzen musste. Wurde einfach eine Landschaftsschutzverordnung erlassen, ohne das Gebiet zu benennen? Natürlich nicht. Nur hat sich die Verordnung auf Landkarten bezogen, die nicht unmittelbar mitveröffentlicht wurden:
Bezugnahme auf Karten
Im vorliegenden Fall ergibt sich der räumliche Geltungsbereich des Verbotes der Landschaftsschutzverordnung nicht aus der im Amtsblatt verkündeten Verordnung selbst, sondern er soll Karten, die bei Behörden aufliegen, entnommen werden können. (…)
Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts genügt die unvollständige Verkündung des maßgeblichen Inhalts und die Bezeichnung des räumlichen Geltungsbereiches einer Landschaftsschutzverordnung durch Bezugnahme auf die Eintragung in die Landschaftsschutzkarte („Ersatzverkündung“) nicht den Erfordernissen, denen eine Norm aus rechtsstaatlichen Gründen entsprechen muß. Denn die Vorschrift soll nicht nur von der normsetzenden oder einer anderen Behörde – etwa im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens – angewandt werden, sondern das Verhalten einer unbestimmten Zahl von Personen regeln, ohne das seitens der Behörden die einzelnen Verbote der Vorschrift gegenüber den Normunterworfenen konkretisiert zu werden brauchen. Der Bürger muß deshalb aus der verkündeten Norm ersehen können, wie er sich zu verhalten hat und was unter Strafandrohung verboten ist. (…)
Verweist dagegen eine Verordnung hinsichtlich des räumlichen Geltungsbereiches ihres Verbotes auf die Eintragungen in eine beim Normgeber oder bei einer anderen Behörde verwahrte Karte, so sind Änderungen der Karte der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogen.
Schließlich wirft das Bundesverwaltungsgericht auch noch die Frage auf, ob der durchschnittliche Bürger überhaupt Karten lesen kann:
Verweist dagegen eine Verordnung hinsichtlich des räumlichen Geltungsbereiches ihres Verbotes auf die Eintragungen in eine beim Normgeber oder bei einer anderen Behörde verwahrte Karte, so sind Änderungen der Karte der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogen. (…)
Es erscheint zweifelhaft, ob ein Normgeber, der sich nicht an einen fachlich qualifizierten Personenkreis wendet, davon ausgehen darf, jedermann könne „Karten lesen“. Seine Unterstellung, jedermann, den die Verordnung angehe, könne Karten lesen, und die Einsichtnahme in die Landschaftsschutzkarte vermittele zumindest die gleiche Kenntnis wie der gedruckte Text, ist ungerechtfertigt, wenn, wie noch darzulegen, ist, der räumliche Geltungsbereich der Landschaftsschutzverordnung ohne besondere Schwierigkeiten in dem verkündeten Text der Verordnung festgesetzt werden kann.
Diese Ausführungen erscheinen zunächst etwas schwer nachvollziehbar. Mit Karten ist man, jedenfalls heute, einigermaßen vertraut. Mit entsprechenden Beschriftungen und Markierungen sollte es eigentlich kein Problem sein, zumindest das eigene Grundstück, um das es ja regelmäßig geht, auf einer Karte zu finden. Dass textliche Beschreibungen leichter zu verstehen sind, erschließt sich nicht direkt.
Allerdings schränkt das Gericht dies wiederum etwas ein:
Etwas anderes gilt allerdings für Regelungen, die durch Worte nicht hinreichend deutlich wären und bei denen das Gebot der Rechtssicherheit die Verwendung von gesetzestechnischen Hilfsmitteln, insbesondere zeichnerischer und farblicher Darstellungen auf Plänen und Landkarten, nahelegt. (…) Denn die Aufnahme von Regelungen in den verkündeten Text der Verordnung, obwohl sie mit Worten nicht verständlich ausgedrückt werden können, würde gerade deshalb, weil der Inhalt der Norm unverständlich wäre, gegen den Rechtsstaatsgedanken verstoßen.
Ist eine Umschreibung mit Worten also unmöglich, ist ein Verweis auf (auch unveröffentlichte) Karten doch wieder zulässig. Eine textliche Festsetzung genießt aber grundsätzlich Vorrang.
Wie eine textliche Festsetzung genau aussehen kann, wird sogleich erklärt:
Je nach den örtlichen Verhältnissen und der Lage des Landschaftsschutzgebietes können seine Grenzen auch auf andere Weise festgesetzt werden, indem z.B. als Grenze ein Weg, eine Bahnlinie, ein Bergrücken, ein Waldrand bestimmt oder die Gemarkung oder die Flur (Gewann) bezeichnet wird, die das Landschaftsschutzgebiet bildet
Dies erscheint doch etwas zweifelhaft. Solche Punkte oder Linien kann man in der Natur oft nicht genau bezeichnen. Nicht jeder Weg und nicht jedes Waldstück hat einen Namen. Wenn es solche Bezeichnungen gibt, sind diese nicht unbedingt jedem bekannt.
Landschaftsschutzverordnungen müssen die Abgrenzung des Landschaftsschutzgebietes entweder,
a) wenn es sich mit Worten eindeutig erfassen läßt (z.B. „die Insel X“), in ihrem Wortlaut umreißen, oder
b) durch eine als Anlage im Verkündungsblatt beigegebene Landkarte genau ersichtlich machen (…), oder
c) bei bloß grober Umschreibung im Wortlaut durch Verweisung auf eine an der zu benennenden Amtsstelle niedergelegte und dort in den Dienststunden für jedermann einsehbare Landkarte, deren archivmäßige Verwahrung zu sichern ist, angeben.
Der Verweis auf eine Karte ist also grundsätzlich (und in weiterem Umfang als in der vorherigen Entscheidung) zulässig. Allerdings muss die Karte für den Bürger auch erreichbar sein, also entweder veröffentlicht oder in rechtssicherer Weise auf einer genau bezeichneten, zugänglichen Behörde verwahrt werden.
Bundes-Versammlungsgesetz
Das Versammlungsgesetz des Bundes wurde durch Bundestag und Bundesrat erlassen und gilt insgesamt prinzipiell im gesamten Bundesgebiet. Allerdings fällt das Versammlungsrecht nicht mehr in die Zuständigkeit des Bundes, sondern bestimmt sich durch Landesrecht. Das Bundes-Versammlungsgesetz gilt aber gemäß Art. 125a Abs. 1 GG in einem Land weiter, solange dieses noch kein Landes-Versammlungsgesetz erlassen hat. Diese Frage des Geltungsbereichs ergibt sich also aus dem Bundes-Versammlungsgesetz überhaupt nicht, sondern lässt sich erst durch Recherche im Landesrecht feststellen.
Eine textliche Festlegung des Geltungsbereichs findet sich außerdem noch hinsichtlich einer Detailregelung im Gesetz. § 15 Abs. 2 verbietet nämlich Demonstrationen an historisch belasteten Orten, die einen Bezug zum Nationalsozialismus aufweisen. In der Anlage findet sich dann eine genaue Beschreibung:
Die Abgrenzung des Ortes nach § 15 Abs. 2 Satz 2 (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) umfasst das Gebiet der Bundeshauptstadt Berlin, das umgrenzt wird durch die Ebertstraße, zwischen der Straße In den Ministergärten bzw. Lennestraße und der Umfahrung Platz des 18. März, einschließlich des unbefestigten Grünflächenbereichs Ebertpromenade und des Bereichs der unbefestigten Grünfläche im Bereich des J.-W.-von-Goethe-Denkmals, die Behrenstraße, zwischen Ebertstraße und Wilhelmstraße, die Cora-Berliner-Straße, die Gertrud-Kolmar-Straße, nördlich der Einmündung der Straße In den Ministergärten, die Hannah-Arendt-Straße, einschließlich der Verlängerung zur Wilhelmstraße. Die genannten Umgrenzungslinien sind einschließlich der Fahrbahnen, Gehwege und aller sonstigen zum Betreten oder Befahren bestimmten öffentlichen Flächen Bestandteil des Gebiets.
Gemäß Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG müssen Verwaltungsakte, zu denen auch die streitgegenständliche Allgemeinverfügung zählt (Art. 35 Satz 2 BayVwVfG), inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Inhaltlich hinreichende Bestimmtheit setzt voraus, dass insbesondere für den Adressaten des Verwaltungsaktes die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. (…)
Umfasst der Regelungsgehalt eines Verwaltungsaktes nur einen bestimmten Teil eines Gemeindegebiets, so muss diesem außerdem entnommen werden können, auf welchen räumlichen Geltungsbereich er sich bezieht. Bezugnahmen auf Karten oder Pläne sind grundsätzlich zulässig (…)
Bei der Auslegung ist dabei nicht auf den subjektiven Willen der Behörde abzustellen, sondern auf den Horizont eines verständigen Adressaten in der Situation eines objektiven Empfängers. Auf Mehrdeutigkeit beruhende Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde
Aufhänger war hier also nicht das abstrakte Gebot der Rechtsstaatlichkeit, sondern eine (darauf fußende) gesetzliche Regelung für Verwaltungsakte. Durch die Bezugnahme auf den „Horizont des Adressaten“, wird auch noch einmal deutlich, dass er gerade darum geht, dass der Bürger verstehen soll, was für ihn nun erlaubt und was verboten ist. Dazu gehört eben auch, dass er erkennen kann, wo etwas erlaubt oder verboten ist.
Finanzgericht Münster, 14.04.2015, 1 K 3123/14 F
Angesichts dieser sehr ausdifferenzierten Rechtsprechung bringt es auch nichts, sich unbedarft zu stellen und sich auf Rechtsunsicherheit zu berufen, weil man angeblich den Geltungsbereich von Normen nicht wisse. Dies gilt vor allem für Normen, die naheliegenderweise im gesamten Einflussbereich des Normgebers gelten.
Dazu hat das Gericht sehr unmissverständlich ausgeführt:
Darüber hinaus ergibt sich der Geltungsbereich des Grundgesetzes auch ohne Art. 23 GG a.F. bereits hinreichend aus dessen Überschrift („Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“) und aus dessen Präambel. Vor allem aber ist es eine völker- und staatsrechtliche Selbstverständlichkeit, dass Verfassungen auch ohne die explizite Nennung eines räumlichen Geltungsbereichs Gültigkeit beanspruchen. Ein Großteil der Verfassungen anderer Staaten in Europa und weltweit enthält entweder schon überhaupt keine Aussage zum räumlichen Geltungsbereich oder aber jedenfalls keine nähere Definition dazu, wie der Geltungsbereich (das Staatsgebiet) im Einzelnen konkret ausgestaltet (begrenzt) ist (dies galt übrigens auch für die Weimarer Verfassung). Einseitige Grenzdefinitionen mit völkerrechtlicher Wirksamkeit kann es prinzipiell schon deshalb nicht geben, weil staatliches Recht immer nur nach innen wirkt und andere souveräne Staaten nicht bindet; folgerichtig wird der konkrete Grenzverlauf rechtswirksam nicht in der Verfassung eines Staates, sondern über völkerrechtliche Verträge bzw. Abkommen mit den Nachbarländern definiert.
Eine Verfassung kann also gar nicht anordnen, wo sie gilt. Sie kann es allenfalls klarstellen. Würde aber das Grundgesetz vorsehen, dass es auch in Botswana oder auf Hawaii gilt, hätte das keinerlei Bedeutung, denn dort gilt es eben unstreitig nicht. Und eine Rechtsnorm, die in Botswana nicht gilt, kann nicht regeln, dass sie in Botswana gilt, weil eben auch die Regelung ihres Geltungsbereichs nicht in Botswana gilt.
Umgekehrt gilt die Verfassung aber auch immer innerhalb der gesamten Grenzen des Staatsgebiets und nicht nur in einem Teil davon. Es kommt einfach nicht vor, dass die Staatsorgane ihre Macht irgendwo auf dem Gebiet, das unter ihrer Herrschaft steht, nicht ausüben wollen.
Der Geltungsbereich der Verfassung entspricht also schon denklogisch immer dem tatsächlichen Einflussbereich der Staatsorgane.
Der räumliche Geltungsbereich der Abgabenordnung beschränkt sich gemäß dem völkerrechtlichen Territorialprinzip auf das der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland unterliegende Staatsgebiet
Und das gleiche gilt dann eben auch für ein Bundesgesetz wie die Abgabenordnung.
Keine Aufhebung eines Gesetzes wegen Geltungsbereichs
Darum gibt es auch bis heute keinen einzigen Fall, in dem ein formelles Gesetz mangels Geltungsbereichs aufgehoben wurde. Denn entweder gilt es – was der Normalfall ist – im gesamten Einflussbereich des Gesetzgebers. Oder es soll nur in einem ganz bestimmten Gebiet gelten, dann wird dieses Gebiet – weil es eben ein solcher Ausnahmefall ist – sehr genau benannt.
Einen ganz engen Geltungsbereich, den man nur mit Einzeichnungen in Karten, Beschreibungen der Landschaft o.ä. definieren kann, haben Gesetze in aller Regel nicht. Streiten mag man allenfalls einmal über Sonderregelungen für einzelne Vorschriften wie den oben angeführten § 15 Abs. 2 des Versammlungsgesetzes.
Aber ein juristisches Problem, dass man nicht wüsste, wo ein Gesetz nun gelten soll, existiert schlicht nicht.
Mich hat eine sehr interessante Anfrage erreicht, die ich hier beantworten möchte. Ich muss dazu sagen, dass es sich um keine Thematik handelt, zu der ich die juristische Einschätzung ohne Weiteres aus dem Ärmel schütten konnte. Die Problematik ist recht tiefgehend, war anscheinend noch nicht Gegenstand einer gerichtlichen Klärung und könnte darum im Streitfalle auch anders gesehen werden.
Widerspruchsverfahren weitgehend abgeschafft
Zunächst einmal zum allgemeinen Hintergrund: Früher hab es fast ausnahmslos die Möglichkeit des Widerspruchsverfahrens, wenn einem eine behördliche Entscheidung nicht gefiel. Wenn beispielsweise die Gemeinde eine Straßenbauabgabe verlangt hat, hat sie einen schriftlichen Bescheid darüber erlassen. Wenn man damit nicht einverstanden war, konnte man Widerspruch einlegen, woraufhin die zuständige Widerspruchsbehörde (je nachdem entweder wieder die Gemeinde selbst oder auch bspw. der Landkreis) die Sache erneut geprüft und neu entschieden hat.
Das Widerspruchsverfahren wurde als eine Art Vorinstanz des Gerichtsverfahrens gesehen, weswegen es auch nicht im Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes, sondern in der (Bundes-) Verwaltungsgerichtsordnung (§§ 68 bis 75) geregelt ist.
Dieses Widerspruchsverfahren wurde mittlerweile in den meisten Bundesländern und in den meisten Rechtsgebieten ganz abgeschafft oder für freiwillig erklärt. Dies erlaubt § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Wir nehmen für unseren Fall an, dass das Widerspruchsverfahren hier nicht zur Verfügung steht. Der Bürger muss also, wenn er einen behördlichen Bescheid erhält, unmittelbar Klage zu Verwaltungsgericht erheben. Wenn er einen Widerspruch gemäß § 68 VwGO einlegt, ist dieser unzulässig, weil ein Widerspruchsverfahren eben nicht zur Verfügung steht.
(Um-) Deutung des unzulässigen Widerspruchs
Nun ist ein Schreiben eines Bürgers, das dieser als „Widerspruch“ bezeichnet, aber nicht zwingend auch wirklich ein Widerspruch im Sinne der Verwaltungsgerichtsordnung. Es ist allgemein anerkannt, dass eine jede rechtliche Äußerung oder Erklärung umgedeutet werden kann, wenn eine unpassende Bezeichnung gewählt wurde, mit der das Ziel dieser Äußerung nicht erreicht werden kann.
Wenn der Widerspruch aber nun kein Widerspruch ist, was ist er dann? Hier kommt das Petitionsrecht aus Art. 17 GG ins Spiel:
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.
Wenn man ein Schreiben an eine Behörde richtet, dann kann das je nach Situation ein formeller Antrag oder ein Rechtsbehelf sein, es handelt aber zumindest um eine Petition. Diese Petition hat im auch im mittlerweile gesetzlich formalisierten Verwaltungsverfahren ihren Platz, wird also nicht durch die Möglichkeit der Klage verdrängt.
Recht auf Kenntnisnahme über Petitionsrecht
Wenn es „nur“ eine Petition ist, hat der Bürger aber lediglich ein Recht auf Kenntnisnahme der Petition. Weitergehende Rechte dahingehend, dass die Petition in einer bestimmten Weise behandelt wird oder dem Anliegen entsprochen wird, gibt es nicht.
Im Ausgangsfall bedeutet das also, dass die Behörde den Widerspruch zur Kenntnis nehmen muss. Sie muss aber den „angefochtenen“ Bescheid nicht – wie in einem ordentlichen Widerspruchsverfahren, vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 und § 72 VwGO – neu überdenken und erst recht nicht aufheben. Denn einen Anspruch auf eine bestimmte Sachbehandlung gibt es eben nicht.
Ist dann dieser Widerspruch als Petition eine völlig bedeutungslose Unmutskundgebung, die von der Behörde einfach nur abgeheftet werden kann? Nein, so einfach ist es auch wieder nicht.
Behörde kann Verwaltungsakt aufheben
Die Behörde hat grundsätzlich, also völlig unabhängig von einem Widerspruch des Bürgers, die Möglichkeit, einen Verwaltungsakt nachträglich aufzuheben (§§ 48 und 49 der meisten Landes-VwVfG). Wenn nun aber der Bürger im Rahmen der Petition etwas vorbringt, das Anlass sein könnte, eine solche Aufhebung zu erwägen, dann ist die Behörde auch gezwungen, dem nachzugehen.
Das bedeutet also: Art. 17 GG zwingt die Behörde, das Schreiben überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. §§ 48, 49 VwVfG zwingen die Behörde, die mögliche rechtliche Relevanz dieser Kenntnis zu prüfen.
Bedeutet das nun, dass man jede behördliche Entscheidung qua Petition einer erneuten Prüfung zuführen kann und es damit völlig unerheblich ist, ob es ein formelles Widerspruchsverfahren gibt? Nein, so einfach ist es auch wieder nicht.
Denn es handelt sich bei den §§ 48, 49 VwVfG um Kann-Vorschriften. Die Behörde kann einen Verwaltungsakt nach ihrem Ermessen aufheben, muss es aber in aller Regel nicht. Wenn die Behörde also nach Kenntnisnahme des Widerspruchs keinen Anlass sieht, ist das grundsätzlich rechtmäßig.
Weitere Aufhebungsmöglichkeiten
Daneben gibt es noch seltenere Möglichkeiten, Verwaltungshandeln zu korrigieren.
Wenn der Verwaltungsakt an einem „besonders schwerwiegenden Fehler leidet“, ist er nichtig, also schlicht nicht existent (§ 44 VwVfG). Erfährt die Behörde von einem solchen Fehler über eine Petition, wird sie regelmäßig gezwungen sein, diese Nichtigkeit festzustellen, den Bescheid also zur Klarstellung aus der Welt zu schaffen.
Finden sich neue Beweismittel oder ändert sich die Rechtslage, kann auf Antrag des Betroffenen das Verfahren neu aufgegriffen werden (§ 51 VwVfG). In diesem Falle wird man einen unzulässigen Widerspruch (ggf. nach Rückfrage beim Bürger) in einen solchen Antrag umdeuten müssen.
Der Schwerpunkt der behördlichen Reaktion wird also regelmäßig in den §§ 48 und 49 VwVfG liegen.
Effektivität der Petition ist begrenzt
Insoweit muss man wohl auch sagen, dass ein außerordentliches Mittel wie dieser informelle Widerspruch nicht dazu führen darf, dass die formellen Wege der Anfechtung unterlaufen werden. Dies äußert sich darin, dass zum einen eben die Aufhebung im Ermessen der Behörde steht, zum anderen aber schon die Beschäftigung mit der Eingabe über die Kenntnisnahme nicht hinausgehen muss.
Eine Handlungspflicht der Behörde gibt es also nur, wenn sich anhand des Inhalts der Eingabe aufdrängt, dass die Behörde aus rechtsstaatlichen Gründen gar nicht anders kann, als den Bescheid aufzuheben. Die Argumentation muss also so überwältigend sein, dass aus der Kann-Vorschrift gleichsam ein „Muss“ wird, weil der Bescheid einfach nicht in der Welt bleiben kann. In solchen Fällen spricht man von einer „Ermessensreduzierung auf null“ – es gibt zwar immer noch ein Ermessen, aber ein sachgemäßer Gebrauch des Ermessens erlaubt nur eine Entscheidung.
Eine gerichtliche Anfechtung wird sich dementsprechend auch nur noch in diesem Bereich stattfinden können. Man müsste also vor dem Verwaltungsgericht nachweisen, dass eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt, die die Behörde zur Aufhebung des Verwaltungsakts verpflichtet. Ein Nachweis, dass der Verwaltungsakt unrichtig ist oder so nicht hätte ergehen dürfen, reicht nicht mehr aus.
Man hat also in diesem Fall das Recht auf eine volle Nachprüfung (wie bei einem zulässigen Widerspruchsverfahren oder bei der Klage gegen den Bescheid als solchen) verloren und vergrößert damit den Ermessensspielraum der Behörde erheblich.
Dieser Spielraum geht aber eben nicht so weit, dass die Behörde die Unzulässigkeit eines Widerspruchs zum Anlass nimmt, das Schreiben völlig zu ignorieren, weil sie sich dafür nicht mehr zuständig fühlt. Dies wäre eine Verletzung des Petitionsgrundrechts.
Die Meinungsfreiheit schützt das Recht darauf, persönliche Wertungen und Ansichten ungestraft zu äußern. Hierzu hört man häufig die Aussage, Tatsachen seien demgegenüber keine Meinungen und wer Tatsachen (insbesondere falsche Tatsachen) ausspreche könne sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.
Die Rechtsprechung sieht dies aber ganz anders. Auch Tatsachenbehauptungen sind in aller Regel durch die Meinungsfreiheit geschützt. Dies soll hier anhand einiger Beispiele erläutert werden:
Tatsachenaussage, die von vornherein eine Wertung darstellt
Hitchcock hat keine guten Filme gemacht
Hier wird zwar formal gesehen eine Tatsache behauptet, weil ausgesagt wird, Herr Hitchcock habe bestimmte „Filme gemacht“. Weil aber der Gegenstand dieser Handlung ein „guter Film“ sein soll, ist klar, dass die Aussage auf einer Wertung aufbaut. Denn ob ein Film nun gut oder schlecht ist, ist eine hochgradig subjektive Aussage.
Tatsachenaussage als Ergebnis einer Abwägung
Genforschung schadet mehr als sie nützt
In diesem Fall wird auch eine an sich nachprüfbare Aussage getroffen. Man kann Schaden und Nutzen der Gentechnik objektiv feststellen und dies dann auch quantitativ vergleichen. Andererseits ist aber auch klar, dass es nicht in erster Linie um einen quantitativen Vergleich geht. Vielmehr werden positive und negative Folgen subjektiv gegenübergestellt und anhand dessen eine Gesamtabwägung angestellt, die zu einem dann positiven oder negativen Ergebnis führt.
Meinungsbildung anhand von Tatsachen
Donald Trump hat die Wahl 2020 gewonnen
Diese Aussage bedarf zunächst einmal der Auslegung. Denn es ist klar, dass Mr. Trump die Wahl 2020 nicht gewonnen hat, weil er weniger Wahlmännerstimmen erhalten hat als Mr. Biden. „Gewonnen“ kann in diesem Zusammenhang aber auch eine andere Bedeutung haben, nämlich diejenige, dass er „eigentlich gewonnen“ hätte, wenn alle Stimmen korrekt abgegeben und korrekt gezählt worden wären.
In diesem zweiten Kontext ist die Aussage dann aber auch eine Meinungsäußerung. Sie bedeutet „Wenn ich mir die vorliegenden Tatsachen anschaue, komme ich zu der Überzeugung, dass er eigentlich gewonnen hätte“. Aus dem Gesamtzusammenhang ist klar, dass der Sprecher dieser Äußerung natürlich nicht jede einzelne abgegebene Stimme und die Umstände ihrer Abgabe überprüft hat. Er gibt also nicht nur Tatsachen wieder, sondern in erster Linie seine Bewertung.
unbewusst falsche Tatsachenbehauptung
Der Erste Weltkrieg endete 1921.
Das Ende eines Krieges ist eine objektiv feststellbare Tatsache. Dies gilt jedenfalls dann, wenn damit ein bestimmtes Verständnis des Begriffs verbindet und nicht etwa sagen will „Der Erste Weltkrieg endete nie wirklich, sondern ging über verborgene Spannungen zwischen den Staaten in den Zweiten Weltkrieg über“.
Ist man nun aus historischem Unwissen der Meinung, der Frieden sei es 1921 geschlossen worden, ist dies schlicht falsch. Als unbewusste Falschbehauptung ist sie aber grundsätzlich noch durch die Meinungsfreiheit geschützt, weil sie trotzdem zur Meinungsbildung beitragen kann – und sei es nur, indem man durch gemeinsame Recherche ihre Unwahrheit feststellt.
Grenzen des Schutzes von Tatsachenbehauptungen
Anders ist es nur, wenn die falsche Tatsachenbehauptung bewusst und irreführend erfolgt. Wer etwas Unrichtiges sagt und damit andere Personen absichtlich täuscht, trägt damit nicht zur Meinungsbildung bei, sondern erschwert diese gerade. Er kann sich damit nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.
Aber auch, soweit Tatsachenbehauptungen nach diesen Grundsätzen geschützt sind, können sie verboten sein, sofern dieses Verbot einen legitimen Zweck verfolgt. In besonderen Konstellationen können sogar wahre Tatsachenbehauptungen unzulässig sein.
Auf Facebook kursiert gerade ein Meme mit einem juristischen Zitat, das großen Anklang findet:
Nach dem Grundgesetz können die Grundrechte auch in einer Notstandssituation nicht außer Kraft gesetzt werden. Die Rechtslage unter dem Grundgesetz unterscheidet sich ganz grundlegend von der Weimarer Verfassung. Dort konnte der Reichspräsident gemäß Artikel 48 zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit die Grundrechte vorübergehend außer Kraft setzen. In unserer Verfassung, dem Grundgesetz, ist das bewusst nicht so geregelt worden. Es gilt immer der Grundsatz: In dubio pro libertate.
Hans-Jürgen Papier
ehem. Präsident des Bundesverfassungsgerichts
im Interview mit der Berliner Zeitung, 13.09.2021
Wenn ein früherer BVerfG-Präsident das gesagt hat, dann kann es wohl so falsch nicht sein. Trotzdem muss man diese Aussage schon auch etwas hinterfragen.
Nach langen Diskussionen sollen nun sogenannte „Kinderrechte“ ins Grundgesetz aufgenommen werden.
Der Ansatz ist, dass die speziellen Rechte von Kindern, gerade in gerichtlichen Verfahren, in denen es um sie selbst geht (z.B. Sorgerecht), geschützt werden sollen. Zudem sollen die besonderen Bedürfnisse der Kinder verfassungsrechtlich berücksichtigt werden.
Dagegen wird zum einen eingewandt, dass Kindern natürlich die gleichen Grundrechte zustehen wie allen anderen Menschen. Gerade im Familienrecht sind ihre Rechte außerdem durch die einfachen Gesetze weitgehend geschützt. Besonders kritisch wurde zudem gesehen, dass die Kinderrechte auch gegen die Rechte der Eltern stehen können. In solchen Konflikten wäre dann quasi automatisch der Staat berufen, die Kinder gegen ihre Eltern zu „schützen“. Damit drohte, dass die Eingriffsrechte des Jugendamts und anderer Behörden ausgebaut werden.
Nach derzeitiger, keineswegs feststehender Lage werden die aktuellen Corona-Beschränkungen bis ins Jahr 2021 in dieser oder ähnlicher Form bestehen. Kernpunkt der staatlichen Strategie ist das Vermeiden zwischenmenschlichen körperlichen Kontakts, um die Weitergabe der Corona-Erkrankung zu verhindern: Mehr als fünf Erwachsene aus zwei Haushalten sind derzeit nicht erlaubt.
Da überrascht es oft, dass anscheinend für das Weihnachtsfest vorübergehende Lockerungen geplant sind. Momentan heißt, man dürfe sich zwischen 23.12. und 01.01. in Gruppen von immerhin zehn Erwachsenen aus mehreren Haushalten treffen. Warum jetzt das? Beachtet das Virus kalendarische Gegebenheiten und religiöse Feste?
Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig sein
Die Lösung liegt im Verfassungsrecht, genauer gesagt in der Verhältnismäßigkeit.
Inmitten der Corona-Pandemie werden immer neue Rechtsvorschriften erlassen, um diese einzudämmen oder in anderer Form dagegen anzugehen. Sie alle haben gemeinsam, dass dem Staat und seinen Behörden zusätzliche Kompetenzen gegeben werden und die Rechte der Bürger eingeschränkt werden oder eingeschränkt werden können.
Aktuell wird – obwohl ein Impfstoff gegen das Corona-Virus noch gar nicht vorliegt – ein Gesetzesentwurf mit einer Impfpflicht bzw. einem Grundrechtsverlust für nicht geimpfte Personen in Verbindung gebracht.
Zweites Epidemieschutzgesetz
Dieser Gesetzesentwurf nennt sich in Langform „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ und liegt derzeit noch in Form einer Formulierungshilfe vor.
Das kommt ganz darauf an, in welchem Rechtsgebiet man sich befindet und inwieweit dieses Rechtsgebiet durch EU-Rechtsnormen geregelt wird. Das Bundesverfassungsgericht ist mittlerweile sogar der Meinung, dass in einem vollständig EU-rechtlich geregelten Rechtsgebiet die Grundrechte des Grundgesetzes komplett durch die Grundrechtecharta verdrängt werden.
In der Diskussion um eine CO2-Steuer und angeblich allgemein zu günstiges Reisen wird neuerdings eine Aussage sehr häufig bemüht: Es gebe kein Grundrecht auf preiswerte Flüge und auf billiges Benzin. Dieses Mantra wird von ökologisch beseelten Politikern bis in die Niederungen der Kommentatoren des staatlichen Fernsehens hinein immer wieder verbreitet.
Aber ist es tatsächlich so, dass das Grundgesetz Autofahrern und Flugpassagieren gar keinen Trost anzubieten vermag? Beginnen wir, weil es einfacher ist, mit den Teilen dieser Aussage, die richtig sind.
Kein spezifisches Grundrecht
Zunächst ist es so, dass es in einem freiheitlichen Grundrechtsverständnis, wie es auch der deutschen Verfassungstradition zugrunde liegt, überhaupt kein „Recht auf irgendetwas“ gibt. Die Grundrechte sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, sie sind Ausprägungen des Rechts, in Ruhe gelassen zu werden. Leistungsrechte gibt es im Grundgesetz nur sehr selten, bspw. gibt es aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf existenzsichernde Sozialleistungen. Ein Recht auf Flugtickets oder auf eine Tankfüllung mit Kraftstoff gibt es dagegen nicht.